21.9.2015 - Interlaken
Willst du deinen Weg gehen, verachte nicht die Welt der Sinne und Gedanken. Sie vollkommen anzunehmen, ist wahre Erleuchtung. Meister Seng-Tsan
Habe eigentlich ganz gut geschlafen. Aber als ich um 6 aufstehe brechen direkt wieder die Wunden an den Füßen auf und ich kann kaum laufen. Ich lege mich noch mal hin und überlege, was ich mache. Auf das Rothorn laufen kann ich in jeder Form vergessen und auch ein Abstieg vom Brünigpass nach Brienz hinunter wird wohl schwierig. Also kann ich wenigstens noch gemütlich liegen bleiben und muss mich nicht sofort die 30 min zum Bahnhof quälen.
Das ich mich quäle sieht auch direkt Heinz, der Platzwart, als ich später den Schlüssel abgebe. Ob ich ein druck-nehmendes Pflaster habe, fragt er mich. Nein, habe ich nicht. Ich habe eine abentuerliche Konstruktion aus einem Pflaster, das nicht hält und Hansaplast, sieht mehr aus wie ein paar römische Sandalen, aber hält halbwegs. Mehr gab mein Verbandszeug heute nicht mehr her, ich muss dringend in die Apotheke. Brigitte, seine Frau und die Dame die gestern per E-Mail auf meine Online-Reservation geantwortet hat, überzeugt ihn, nach dem druck-nehmenden Pflaster zu schauen. Er verschwindet im Container der Campingplatz-Anmeldung. Sie erzählt, dass die Schweizer Pilger webseiten sie nur ungern aufgenommen haben, weil sie nicht direkt am weg liegen. 15 min weg vom weg sollte für nicht-lädierte Pilger ja eigentlich kein Problem sein. Ich wäre froh, mehr solche günstigen Zimmer auf meinen Listen zu haben. Oder rechnen die Webseiten an diesem Punkt etwa mit einem Pilger-Fuß-Status wie meinem und vermeiden jeden Umweg? Heinz kommt zurück, hat nicht gefunden was er sucht. "Warten Sie, ich fahre kurz nach Hause.", sagt er und schwingt sich auf sein Rad. Brigitte kümmert sich darum die Post der Camper bereit zu legen und ich warte. Keine 5 min später kommt Heinz mit einem Stapel Pflaster und Verbände zurück. "So, dann verarzten wir sie mal." Ich packe meinen Fuß aus und entferne meine Römersandale. "Und so sind sie noch hergelaufen?", fragt er, sichtlich irritiert. Er hat ein Pflaster mit einer ovalen Anhebung, die verhindern soll dass Druck an die Wunde kommt. Darüber kommt eine selbstklebende Fixierbinde. Nachdem ich richtig verarztet bin, fühlt sich das ganze schon besser an, als mit meinem improvisierten Zeug. Heinz erzählt, dass er und Brigitte auch gerne mal nach Santiago pilgern würden und wünscht mir alles Gute. Ich bedanke mich herzlich bei den beiden und habe wieder etwas neuen Mut.
Beim verlassen des Campingplatzes sehe ich eine Tafel mit den Abfahrtszeiten der Züge ab Giswil und des Busses nach Sörenberg. Ich wusste bisher noch nicht von dessen Existenz, aber er pendelt laut Aushang bis Mitte Oktober täglich zwischen Giswil und Sörenberg. Das ist deswegen für mich interessant, weil von Sörenberg eine Seilbahn aufs Brienzer Rothorn führt und damit eine bequeme alternative zum Aufstieg vom Brünigpass mit seinen 1400 Höhenmetern für Fußfaule und Invalide.
Zunächst aber zum Bahnhof, beim Supermarkt etwas zu frühstücken holen und auf den Bus warten. Der Weg zum Bahnhof führt dem Bach entlang, es ist ein wunderschöner sonniger morgen. Die Füße merke ich aber trotz dem neuen Verband nicht zu knapp. Auf dem Weg zum Bahnhof beschließe ich, heute den sonnigen Tag auf dem Brienzer Rothorn und am Brienzer See zu genießen, nach Interlaken zu fahren und morgen mit dem Zug nach Hause zu fahren, damit der Fuß in Ruhe heilen kann. Nach dem halbwegs günstigen Supermarkt-Frühstück (2 Energy Drink, 3 Birnweggen, 3 Haselnussrollen - 7,60CHF) habe ich noch eine dreiviertel Stunde Zeit bis der Bus kommt. Die verbringe ich damit, panisch nach meinem Waschzeug, das auch alle Medikamente und restlichen Pflaster enthält, zu suchen. Ich habe schon per Internet ein am Bahnhof stehendes Carsharing Auto reserviert (die stehen hier an jedem Bahnhof und kann man auch als flinkster Kunde benutzen), um damit kurz zurück zum Campingplatz zu fahren und es zu holen, als ich es endlich finde! Habe es unüberlegt in einen anderen Beutel, wo es eigentlich nicht rein gehört hineingepackt. Immerhin ist es gerade noch rechtzeitig aufgetaucht um das carsharing auto zu stornieren und stattdessen den Bus zu erwischen.
Mit dem Bus geht es direkt steil und kurvig nach oben. Es ist ein normaler Postbus, aber der Fahrer übernimmt auch das "touristische Programm" für mich und die 4 anderen Fahrgäste und hält ein paar mal an um zu erklären was man sieht. Zunächst einmal eine tolle Aussicht auf den Sarnersee, Giswil und das Stanserhorn, mit seiner neuen Cabrio-Seilbahn. Hinter Giswil ist auch der Mittelpunkt der Schweiz, dort wird jedes Jahr der Name des "Schweizer des Jahres" in eine Tafel graviert.Nächster Stop ist die Mörlialp, hier gibt es ein Hotel und ein paar Skilifte. Der Busfahrer erzählt, dass die Panoramastraße im Winter gesperrt ist und nur zu den geraden Stunden von Bussen und LKWs Richtung Giswil befahren werden darf. In den ungeraden Stunden in die andere Richtung. Nach der Passhöhe sieht man dann schon das Rothorn und die Seilbahn. Der Busfahrer ruft dort sogar kurz an, damit wir noch mitkommen können.
So geht es dann auch direkt zügig auf das 2350m Hohe Brienzer Rothorn. Von oben sieht man 693 Berge, das Rothorn gilt als der Berg "mit der besten Gesamtschau der Schweizer Alpen". Oben ist es mit 5 Grad noch recht frisch, aber man sieht wirklich eine Menge, es ist sonnig und bis auf ein paar Nebelschwaden klar. Ich spiele kurz mit dem Gedanken zum 200m tiefer liegenden Eisee zu laufen - verwerfe ihn dann aber doch lieber nach den ersten Schritten Richtung Gipfel. Stattdesen geniße ich in Ruhe die Aussicht und bin erstaunt, wie viele Gipfel ich erkenne und bennen kann.
Runter geht es auf der anderen Seite mit der Brienzer Rothorn Bahn, einer 1892 erbauten und eine der zwei letzten auch heute noch Fahrpalnmäßig mit Dampflokomotiven befahrenen Strecken der Schweiz (die andere am Furka). Auf dem Weg zum Bahnhof komme ich am Kulm Restaurant vorbei (wo ich ja eigentlich übernachten wollte). Ich habe Hunger, aber das Wissen um die Bergpreise verleitet mir eigentlich das Essen. Als ich dann aber beim dran vorbei laufen das Wort "Älpler Makkaroni" aufschnappe, besiegt der Hunger dann doch den Geldbeutel. Und mit 25CHF ist das ganze gar nicht mal teurer als unten im Tal, nur vielleicht die Apfelmusportion etwas klein geraten. Während ich esse, düst die Schweizer Armee mit einem F-18 durchs Tal. Den hört man mehr als dass man ihn sieht. Das führt dazu, dass das ganze Restaurant etwa eine halbe Minute verzweifelt suchend in die Luft schaut, während der Jet weit unten im Tal längst an uns vorbei geflogen ist. Hätte ich nicht auf meinen Teller geschaut, hätte ich ihn auch nicht gesehen.
Nach dem Essen geht es dann zum Bahnhof. Die Dampfzüge bauchen 350kg Kohlen und müssen 2 mal Wasser nachtanken um 115 Personen in einer Stunde die 9 Kilometerlange Strecke hoch zu befördern. Vermutlich ist das bisher mein Wegstück mit der schlechtesten Ökobilanz.Auf der steilen und langsamen Fahrt nach unten sehe ich dann sogar einige der 170 am Brienzer Rothorn heimischen Gämse!
Unten angekommen überlege ich erstmal wie ich weiter komme. Das ist ein taktischer Fehler, denn wie hier üblich sind alle Verkehrsmittel aufeinander abgestimmt und so fahren während ich überlege Bus, Bahn und Schiff vor meiner Nase weg. Ich habe also eine Stunde Zeit, am See die Sonne zu genießen, bevor es weiter nach Interlaken geht.
Interlaken ist quasi das China-Town der Schweiz. Schon in der Bahn fällt auf, dass viel mehr Asiaten als zum Beispiel oben auf dem Rothorn unterwegs sind. Am Bahnhof in Interlaken fällt man dann als Europäer schon richtig auf. Aber das hat ja auch sein Gutes, die Touristen-Horden wollen ja auch beherbergt werden. In Interlaken gibt es daher reichlich Hotels und gleich 4 recht große Hostels, eins davon wurde sogar mehrfach zum besten der Welt gewählt. Ich latsche also direkt, ohne reserviert zu haben, zu dem, das am nächsten am Bahnhof ist und habe die Wahl zwichen einem Einzelzimmer (also ein 4-Bett zimmer für mich alleine) für 60CHF oder einem Bett im 12-er Zimmer für 30CHF. Ich nehme das große Zimmer und bekomme für 8CHF sogar noch Frühstück.
Die Happy Inn Loge ist ein großes, altes Haus, mein Zimmer ist ganz oben und wirklich groß. Der Verband von heute morgen und das wenige laufen, scheinen meinen Füßen gut getan zu haben. Zum ersten Mal seit Einsiedeln hat sich die Situation deutlich gebessert. Ich schaue nach Zügen nach Hause, entscheide mich dann aber doch, morgen bis Freitag in Interlaken zu bleiben und zu hoffen, dass ich dann weiter laufen kann. Ich habe noch Guthaben bei Hapimag und kann es mir so 3 Tage, subjektiv ohne Kosten, gemütlich machen. Einen Verlust hat der heutige Tag dann aber doch beschert. Als ich am Schreibtisch sitze und schreibe, fällt mir ein merkwürdiges knistern auf. Ich gehe der Sache nach und stelle fest, dass eine der vier Batterien meiner Tastatur Flüssigkeit verliert, die mit dem knistern aus der Batterie tropft. Muss ich morgen ersetzen. Die zahlreichen angebotenen Aktivitäten des Hostels ("Drinking" - Kein Witz, steht auf der Liste der Aktivitäten zwischen Paragliding und Rafting), ignoriere ich und gehe früh schlafen.
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