20.9.2015 - Giswil
"Der Mensch leidet, weil er Dinge zu besitzen und zu behalten begehrt, die ihrer Natur nach vergänglich sind." Buddha
Um kurz vor sieben wecken mich die Zimmernachbarn mit ihrem gepoltere und Musik. Die Bäuerin hat gestern erzählt, dass die beiden früh los wollten. Und so sind eine Tante der Familie und ich die einzigen Gäste beim Frühstück um 8. Am Tisch sitzen die Tante, der Bauer, vier Buben und ich. Die Bäuerin hat keinen gedeckten Platz und steht zwischen mir und der sich rechts von mir befindenden Anrichte mit der Kaffeemaschine. Ich bin morgens vor den ersten drei Tassen Kaffee ja meistens so Gesprächig wie ein Stein. Das scheint auch auf die Bauernfamilie zu zutreffen. Außer der Tante. Sie versucht mit ihrer Familie ein Gespräch aufzubauen. Ich komme mir vor, wie in den USA in einem dieser Museen, wo man von Raum zu Raum läuft und in jedem Raum, Schauspieler eine geschichtliche Situation vortragen. "Hier sehen Sie die Schweizer Bauernfamilie beim Frühstück. Dargestellt ist die Nidwalder Variante, wie sie 2015 in Stans anzutreffen war." Ich mampfe still vor mich hin.Die Konfitüre ist selber gemacht und sehr lecker. Die Milch und der Käse frisch von der eigenen Kuh, nur das Brot vom Bäcker, "Das habe ich aufgegeben, es gelingt mir einfach nicht", sagt die Bäuerin, als die Tante danach fragt.Weitere Gesprächsthemen sind der Milchpreis und die Studie einer jungen Studentin, laut der die Kühe vom bimmeln ihrer Glocken taub werden würden. Das bimeln ist hier außerhalb der Dörfer und Städte wirklich allgegenwärtig. Wenn mich künftig jemand fragt, was Kühe für Laute machen, werde ich guten Gewissens antworten, "Sie läuten".Als über dem Frühstückszimmer Kinder poltern und die Bäuerin kurz nach oben geht um für Ruhe zu sorgen ist meine Museums-Illusion perfekt. Sind das die nicht vorzeigbaren Kinder? Oder die echten Kinder und die hier nur Schauspieler?Nachdem ich fertig gegesen habe und mir die Bäuerin keine dritte Tasse anbiete, verabschiede ich mich. Die Bäuerin kassiert noch kurz die 45CHF für die Übernachtung und weißt auf den Pilgerstempel hin. Mein Pass liegt natürlich oben, "Macht nichts", sagt die Bäuerin, "hier ist offen, kommen sie einfach nochmal rein."Oben packe ich schnell und spüle meine Teetasse von gestern abend, dann ncoh kurz gestempelt und es geht los.
Zunächst führt mich der Weg durch den Ort Stans. Sehr weit schaffe ich es allerdings nicht. Meine Füße schmerzen direkt höllisch. Den Verband habe ich seit gestern morgen nicht mehr gewechselt, weil er eigentlich gut hielt. Für den Kilometer in das Dorf brauche ich Ewigkeiten. Ich frage mich, wie weit ich so kommen kann und ob ein weiterlaufen nicht jede Heilung verhindert.Nachdem ich aber schon gestern trotz Busfahrt nur erbärmliche 20km zurück gelegt habe, sollte ich dringend mal wieder voran kommen. Am Bahnhof hebe ich Bargeld ab und schaue mir den Weg auf der Karte, die Alternativen und Übernachtungsmöglichkeiten an. Wäre ich gut zu Fuß, wäre mein Tagesziel das Kloster Bethanien in Kerns. Davon hatte Schwester Anna Theresia in Ingenbohl schon erzählt und ich mich eigentlich darauf gefreut, aber 14km mit 500 Höhenmetern sind heute absolut unrealistisch. Und das Kloster liegt weit oberhalb des Tals, sollte ich motgen immer noch nicht halbwegs vernünftig laufen könenn, wird es schwierig zur Bahn zu kommen. Ich entscheide mich, meinen Füßen nochmal eine Pause zu gönnen und per S-Bahn Richtung Brünigpass zu fahren.
Auf meiner Unterkunftsliste finde ich außer dem Kloster nur das Naturfreundehaus auf dem Brünigpass und einen Campingplatz in Giswil. Da ich ja eigentlich von Lungern aus entweder zu Fuß oder mit der Seilbahn und zu Fuß auf das Brienzer Rothorn will, statt über den Brünigpass, scheidet das Naturfreundehaus aus. Der Campingplatz hat auch den Vorteil, dass es Waschmaschine und Co gibt und einen kleinen Supermarkt, der auch Sonntags offen sein müsste. Ich reserviere also dort. Direkt kommt eine E-Mail, die mir das Zimmer bestätigt und nach meiner Ankunftszeit fragt. Ich schildere meine Situation und schreibe, dass ich wohl eher früh ankommen werde. "Wir sind von 12.00 – 14.00 Uhr in der Mittagspause. Ich werde Ihnen den Schlüssel von Zimmer 1 von innen stecken, dann können Sie das Zimmer beziehen und dann kommen sie am Nachmittag vorbei um sich anzumelden." Das passt.
Die S-Bahn (gibt sogar Panoramawagen in der 2. Klasse) nach Lungern kostet genau so viel wie nach Giswil und ich habe ja Zeit, also beschließe ich zunächst an Giswil vorbei nach Lungern zu fahren und mit der nächsten Bahn zurück nach Giswil. Das erweist sich als guter Schachzug, denn so erfahre ich, als ich in Lungern ankomme, von einem Schild am Bahnhof, dass die Seilbahn in Lungern seit Jahren Pleite ist, momentan von einem lokalen Investor modernisiert wird und ab 2016 wieder fährt. Damit entfällt die Seilbahnoption, ohne dass ich frühmorgens ahnungslos vor einer Baustelle stehe.
In Lungern laufe ich kurz zum See hinab. Dadurch, dass der gesamte Verkehr seit 2012 durch einen 3,5km langen Tunnel hinter dem Ort vorbei geführt wird ist es fantastisch ruhig. Das einzige Geräusch das man hört ist der Wasserfall der gegenüber rauschend in den See stürzt. Ich gehe zurück zum oberhalb des Ortes liegenden Bahnhof und nehme den nächsten Zug nach Giswil.
Vom Bahnhof in Giswil zum Camping am See sind es laut Google Maps zu Fuß 15 Minuten, ich benötige 35. Der Campingplatz liegt aber dafür wunderschön ruhig und direkt am See. Dank der Beschreibung per E-Mail finde ich mein Zimmer sofort und kann auch hinein. Sach ablegen, schuhe weg, füße begutachten. Tatsächlich, das Pflaster hat die Situation verschlimmert. Dadurch, dass in der Apotheke nach einem Pflaster das auch wirklich hält gefragt habe, habe ich auch ein solches bekommen. Jetzt habe ich nicht nur da wo die Blase war links und rechts eine offne wunde, sondern auch noch, schön rechteckig sichtbar, da wo das Pflaster saß. Außerdem ist das Pflaster eitrig und riecht, gelinde gesagt, übel. Den restlichen tag bleibe ich trotz strahlendem Sonnenschein gemütlich im Zimmer und schone die Füße. Nur zum Wäsche waschen gehe ich kurz raus.
Am Abend überlege ich, wie es von hier aus weiter geht. Ob es überhaupt weiter geht und ich nicht lieber nach Hause fahren soll. Die Übernachtungen ab des Jakobswegs und die Tage ohne Laufen fühlen sich nach sinnloser Geldverschwendung an und langsam muss ich mich damit abfinden, dass es unmöglich wird, die Stücke zu laufen, auf die ich mich am meisten gefreut habe - aufs Brienzer Rothorn und von Mürren an den Oeschinensee und nach Gstaad.
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